Tagung 50 Jahre Psychiatrie-Enquête – Geschichte erinnern, Gegenwart und Zukunft gemeinsam gestalten
“50 Jahre Psychiatrie-Enquête” war der Titel einer Tagung, die am 2. und 3. Juni 2025 im Rathaus von Leipzig stattfand. Unter den ca. 400 Teilnehmenden aus ganz Deutschland waren Jennifer Brackmann und Klaus Joisten (Saat+Tat).
Der “Bericht über die Lage der Psychiatrie in Deutschland” wurde im September 1975 veröffentlicht und war der Auslöser für weitreichende Veränderungen in der psychiatrischen Versorgung und Behandlung. Der Bericht wurde über mehrere Jahre von einer Arbeitsgruppe mit über 200 Beteiligten aus Kliniken und Politik erarbeitet.
Ziel war die Beseitigung menschenunwürdiger Lebensumstände in psychiatrischen Kliniken und Wohneinrichtungen, unter denen eine Mehrzahl der chronisch psychisch erkrankten Menschen zu dieser Zeit leben mussten. Es ging um die Sicherung humaner Grundbedürfnisse und Menschenrechte.
Als Strategie wurde eine Auflösung der großen Kliniken und Institutionen nach dem Vorbild anderer europäischer Länder zur gleichen Zeit empfohlen – insbesondere in Italien und Großbritannien. Dies erforderte eine Anerkennung der Psychiatrie als Teil der öffentlichen Gesundheitsversorgung sowie die Gleichstellung von psychischen und körperlichen Erkrankungen und Beeinträchtigungen. Behandlungs- und Teilhabeangeboten sollten möglichst vor Ort im Lebensumfeld und Sozialraum der betroffenen Menschen eingerichtet und vorgehalten werden.
Mit der Tagung wurde der Enquête-Bericht als entscheidender Impuls für die Entstehung einer ambulanten Gemeindepsychiatrie in der BRD mit allen Institutionen, die wir heute kennen, gewürdigt.
Doch wie ist die Entwicklung der “Gemeindepsychiatrie” in den letzten 50 Jahren verlaufen? Wie verläuft sie weiter? Hierzu wurden auch viele kritische Fragen formuliert und erörtert:
> Hat sich mit der Abschaffung alter und der Gründung vieler neuer Institutionen wirklich die professionelle Haltung in der Psychiatrie verändert?
> Fehlt nicht viel zu oft – wie schon im Enquete-Bericht selbst – die Partizipation und Beteiligung der Betroffenen und des beteiligten Umfeldes?
> Wo führen auch die neu entstandenen Institutionen der Gemeindepsychiatrie gesellschaftliche Ausgrenzung fort und verhindern Beteiligung und Selbstbestimmung?
> Können gerade unter ökonomischen Zwängen Organisationen ihre Angebote wirklich “personenzentriert” an den Bedürfnissen und Interessen der Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen ausrichten oder müssen sie refinanzierbare Konzepte verkaufen?
> Gelingt es in der großen Vielfalt der Angebote im gemeindepsychiatrischen Verbund wirklich, für eine gute nicht-institutionelle Unterstützung zu kooperieren oder fallen zu viele betroffene Menschen durch das Netz der Unterstützer?
Viele Fragen zur aktuellen Situation – die meisten haben die Entwicklung der Gemeindepsychiatrie der letzten 50 Jahre begleitet. Daher gibt es auch keine einfachen Antworten, die man als das Ergebnis oder als “Erklärung” aus der Tagung mitnehmen konnte, wie sich dies manche Teilnehmer*innen gewünscht hätten.
Die Tagung war in ihrer Themenvielfalt und auch ihrer Größe in jedem Fall beeindruckend. Am meisten beeindruckt haben mich die Interviews und Erzählungen von Zeitzeugen und Mitgestaltern der Psychiatrie-Enquête – und die Gewissheit, dass auch nach 50 Jahren und dem BTHG die Gemeindepsychiatrie nicht am Ziel angekommen ist – sondern im Sinne von guten Lebenswelten und Sozialräumen Partizipation und Empowerment weiterentwickelt werden muss.